Origins: Cuju in China
<p>Cuju ist ein chinesisches Ballspiel mit einer über 2000 Jahre alten Geschichte. Der Legende nach aber reichen seine Ursprünge noch viel weiter zurück.</p>
<p>Cuju wird auch „Ts’u-Chü“ geschrieben, bedeutet wörtlich übersetzt „Tretball“ und ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Formen des Spiels, die teilweise parallel existierten. Cuju wird heute nur noch selten und als Touristenattraktion oder bei Feierlichkeiten gespielt. Seine bunte Geschichte lebt aber weiter, vor allem vor dem Hintergrund der Mythen rund um die Gründung des Staates China und seines Volkes.</p>
<p>Cuju ist ein komplexes Spiel, das sich über die Jahrhunderte veränderte und weiterentwickelte. Man spielte entweder gegeneinander oder miteinander, als Team oder als Einzelperson, und nicht selten waren Cuju-Spiele eine reine Schauveranstaltung.</p>
<p>Die Version, die nicht wettkampfmässig betrieben wurde, hiess Baida. Die Spieler stellten dabei diverse Fertigkeiten unter Beweis, die als „Xieshu“ bezeichnet wurden. Beim wettkampfmässigen Cuju versuchten jeweils zwei Teams, mehr Punkte zu erzielen als der Gegner.</p>
<p>Eine der besten Beschreibungen von Cuju lieferte der Dichter Li You aus der zweiten Periode der Han-Dynastie (25–220), auch bekannt als Östliche Han-Dynastie. Sein Gedicht belegt, dass Cuju<em> </em>eher eine Art Unterhaltung oder militärische Ausbildung darstellte und als Sinnbild für einen ordentlichen Lebenswandel betrachtet wurde.</p>
<p style="text-align: center;">„Ein runder Ball, eine eckige Wand,<br>Gerade so wie Yin und Yang.<br>Mondförmige Öffnungen auf jeder Seite,<br>jeweils sechs an der Zahl.<br>Man wähle Spielführer und Schiedsrichter<br>und spiele nach unveränderbaren Regeln.<br>Keine Rücksicht gelte für Verwandte und Freunde<br>und bleibe stets unparteiisch.<br>Man achte auf Fairness und Friedfertigkeit<br>und beklage sich nicht über die Fehler anderer.<br>So spielt man richtig Cuju.<br>Und was für Cuju gilt,<br>gilt noch viel mehr für unser aller Leben.“</p>
<p style="padding-left: 40px; text-align: center;"><em><span style="white-space: pre-wrap;">Li You</span></em></p>
<p>Meng Yuanlao beschreibt 1187 in einem Buch mit dem Titel „Das östliche Kapital: Ein Traum an Herrlichkeit“ eine umkämpfte Cuju-Partie. Das Buch enthält Mengs Memoiren des Alltags in Kaifeng, der Hauptstadt der Nördlichen Song-Dynastie vor ihrer Eroberung durch die einfallenden Armeen. Er beschreibt eine kaiserliche Geburtstagsfeier, bei der zwei professionelle Cuju-Teams als Teil der Feierlichkeiten gegeneinander antraten. Das eine Team war grün gekleidet, das andere rot.</p>
<p>Meng schildert, dass der Ball zuerst zwischen den verschiedenen Spielern hin- und hergespielt und dann zum „Zweiten Ballführer“ gepasst wurde. Dieser jonglierte den Ball, bis er ihn perfekt kontrollierte, und spielte dann den „Ersten Ballführer“ an, der mit dem oberen Innenrist versuchte, den Ball durch das Fengliu Yan zu befördern. Gewonnen hatte wohl das Team mit mehr Treffern, wobei dies aus Mengs Aufzeichnungen nicht explizit hervorgeht.</p>
<p>Über die Jahrhunderte wurden zahlreiche Cuju-Anleitungen verfasst, von denen einige bis in die heutige Zeit überdauert haben. Sie liefern einen faszinierenden Einblick in die verschiedenen Arten, den Ball mit dem Fuss zu spielen, sowie in Bewegungsabläufe und Körperhaltungen. Es werden mindestens 16 verschiedene Grundstösse beschrieben, deren Bedeutung aber teilweise noch nicht geklärt werden konnte:</p>
<p>1 − lian (Stoss mit dem oberen Innenrist)<br>2 − xi (Stoss mit dem Knie)<br>3 − guai (Stoss mit dem Knöchel)<br>4 − da (Stoss mit der Fussspitze)<br>5 − bazi (Stoss mit dem Vollspann)<br>6 – banlou<br>7 − deng (Stoss mit der Ferse)<br>8 – chao<br>9 − nie/nian (Stoss mit dem Innenrist)<br>10 − jian (Stoss mit der Schulter)<br>11 − zhuang (Stoss mit der Schuhspitze)<br>12 – xiudai<br>13 – zuwo/zugan<br>14 – pai (Stoss mit der Brust)<br>15 – zati (verschiedene Stösse)<br>16 – kong (Stopper)</p>
<p><em></em></p>
<p>Noch ist unklar, ob auch der Kopfstoss zu den (noch) unbekannten Cuju-Stössen gehört. Diese 16 Kategorien wurden weiter unterteilt in noch spezifischere Stösse und Stossmuster. Für den Kniestoss beispielsweise werden 18 verschiedene Ausführungen beschrieben. Auf alle 16 Grundstösse hochgerechnet ergibt dies rund 300 verschiedene Varianten.</p>
<p>Zudem gab es Regeln und Bestimmungen für Körperbewegungen und zulässige Körperhaltungen. So steht in einer Cuju-Anleitung unter anderem Folgendes:</p>
<p style="text-align: center;"><em>„Der Körper aufrecht wie ein Pinsel,</em><br><em>wie wenn man einen Stein in den Händen hochhält,</em><br><em>Herz und Geist sind locker und entspannt,</em><br><em>die Füsse in beweglichem Stand.</em><br><em>Der Körper aufrecht, nicht gebeugt,</em><br><em>die Hände nach unten hängend, nicht umherfliegend,</em><br><em>die Füsse tief, nicht hoch,</em><br><em>die Stösse langsam, ohne Eile.“</em></p>
<p>In seiner Hochzeit war Cuju zweifellos ein komplexes und anspruchsvolles Spiel, das von den einzelnen Spielern enorme technische Fähigkeiten und von den Teams ein ausgezeichnetes Zusammenspiel verlangte.</p>
<p>Cuju war nie nur Männern vorbehalten, auch Frauen haben in informellem Rahmen immer wieder mit und gegen Männer Cuju gespielt. So findet sich auf einem Bronzespiegel aus der Song-Dynastie (960–1279) eine Abbildung einer Frau und eines Mannes beim Cuju-Spiel, und ein Gemälde von Du Jin aus dem 15. Jahrhundert zeigt Frauen, die während der Tang-Dynastie (618–907) gegeneinander spielen.</p>
<p>Das von Wang Jian (ca. 766–831) während der Tang-Periode verfasste Gedicht „Gong Ci“ beschreibt, wie Mädchen der Yichun-Akademie miteinander Cuju spielen. Berichten zufolge haben Frauen während der Yuan-Dynastie (1271–1368) eine Variante von Cuju<em> </em>gespielt, bei der acht Spielerinnen einen Kreis um eine Spielerin in der Mitte gebildet haben, wobei der Ball systematisch von der Kreismitte zum Kreisrand und zurück gespielt wurde.</p>
<p>Li Yu (1611–1680) – nicht zu verwechseln mit seinem Beinahe-Namensvetter 1500 Jahre früher – schrieb ein wunderschönes Gedicht über Frauen, die Cuju spielen. Neben ihrer Kleidung (rote Röcke) schildert er darin, dass sie von männlichen Jugendlichen neidvoll beobachtet wurden:</p>
<p style="text-align: center;"><em>„Es glänzt der Schweiss im Antlitz hell,</em><br><em>wie Tau auf Blüten hold;</em><br><em>auf schöner Stirn der Mühsal Staub</em><br><em>ein Weidenblatt im Dunst.</em><br><em>Verborgen sind die Finger schlank</em><br><em>versteckt in Ärmeln lang</em><br><em>Und rutscht ein roter Rock empor</em><br><em>klein Füsschen zeigt sich her.</em><br><em>Es fliegt der Ball von Fuss zu Fuss,</em><br><em>Der Atem tief, die Wangen rot</em><br><em>So sehen sie, des Neides voll,</em><br><em>die Jungen von Chang’an.“</em></p>
<p style="text-align: center;">Li Yu, 1611–1680</p>
<p>Frauen sind auch als professionelle Cuju-Spielerinnen ausgebildet worden. Die grausame Praxis des Füssebindens bedeutete für Frauen zu dieser Zeit, dass sie den Ball nicht mit ihren Füssen spielen konnten. Sie nutzten stattdessen ihre Hüften und wohl auch andere Körperteile, um ihre Ballfertigkeiten zu demonstrieren. Diese Frauen waren oft Akrobatinnen oder Künstlerinnen, die ihre Cuju-Kunst als Teil ihres Auftrittsprogramms zum Besten gaben.</p>
<p>Einem in Mawangdui entdeckten Manuskript zufolge entstand Cuju im 3. Jahrtausend v. Chr. während der fast sicher mythologischen Herrschaft von Huangdi, dem Gelben Kaiser, der das Spiel in der militärischen Ausbildung einsetzte. Nachdem seine Truppen in einer Schlacht um die Herrschaft über China die Soldaten seines Rivalen Chiyou besiegt hatten, soll Huangdi Chiyous Magen mit Haaren oder Stroh ausgestopft und daraus einen Ball gemacht haben.</p>
<p>In der chinesischen Literatur wird Cuju erstmals im 3. Jahrhundert v. Chr. schriftlich erwähnt, während der so genannten Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.). Cuju wird auch in den beiden Grundlagenwerken zur Geschichte des antiken China – in „Strategien der Streitenden Reiche“ und „Aufzeichnungen des Chronisten“ – erwähnt.</p>
<p>Beide Texte verweisen auf die wohlhabende Stadt Linzi in der Provinz Shandong, damals die Hauptstadt des Staates Qi, die für die Liebe zu Musik, Schach und eben Cuju besonders bekannt war. Als die Zeit der Streitenden Reiche zu Ende ging und weite Teile Chinas unter der Führung des Staates Qi vereinigt wurden, boten sich die Erzählungen zu den Ursprüngen von Cuju als einende Legende des neuen Staates an.</p>
<p>Im Anschluss an die Zeit der Streitenden Reiche wurde China von der Han-Dynastie regiert (202 v. Chr. – 220 n. Chr.). Ihr gelang es, das Land zu stabilisieren, was China zu mehr Reichtum und kultureller Entwicklung verhalf – ein Umfeld, in dem Cuju aufblühen konnte.</p>
<p>Der erste Han-Kaiser Gaozu (256–195 v. Chr.) liess in seinen Palastanlagen ein ausladendes Spielfeld für Cuju errichten, und zahlreiche Vertreter des Han-Adels taten es ihm gleich.</p>
<p>Cuju wurde als wichtiger Bestandteil einer militärischen Ausbildung betrachtet. Eine der sieben Lehren des Konfuzius-Gelehrten und Politikers Liu Xin (ca. 50 v. Chr. – 23 n. Chr.) besagte, dass Cuju „die Kampfkraft von Soldaten“ stärkt.</p>
<p>Huo Qubing, General in der Han-Armee, gestattete seinen Truppen während der Bewachung der nördlichen Grenzen den Bau eines Cuju-Felds. Mit dem Zerfall des Han-Reiches ab 220 n. Chr. verlor Cuju aber langsam an Bedeutung. Bei der herrschenden Klasse war das Spiel zusehends weniger beliebt, und auch in der militärischen Ausbildung kam es nicht mehr zum Zug.</p>
<p>Die Begeisterung für Cuju beschränkte sich nicht auf den Adel. Während der Tang-Dynastie wurde Cuju zu einem Teil der Folklore des chinesischen Volkes und regelmässig im Rahmen der Feierlichkeiten des Hanshi-Festivals und des Qingming-Fests dargeboten.</p>
<p>Das Hanshi-Festival fand traditionellerweise mitten im Winter statt und hiess auch „Festival für kalte Speisen“, weil zur Zubereitung des Essens kein Feuer verwendet werden durfte. Das Qingming-Fest, auch als „Grabfegerfest“ bekannt, ist ein Totenfest, bei dem den Vorfahren rituelle Gaben dargebracht werden.</p>
<p>Es entstand aus dem Hanshi-Festival und findet auch heute noch jeweils 15 Tage nach der Tagundnachtgleiche statt. Seit 2008 gilt es in China als offizieller Feiertag.</p>
<p>Wang Wei (699–759), wohl der bekannteste Künstler und Dichter der Tang-Dynastie, beschrieb, wie anlässlich eines Hanshi-Festivals die Cuju-Bälle „über den Vögeln flogen“.</p>
<p>Cuju war auch bei Kindern beliebt. Dies belegt die grosse Anzahl von Zeichnungen, die im 7. Jahrhundert als Teil der Serie „Hundert Kinder“ angefertigt wurden und hell gekleidete Kinder zeigten, die den Sport in verschiedenster Ausführung praktizieren.</p>
<p>Während der Song-Dynastie erreichte China in seiner wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklung einen neuen Höhepunkt. Die Einwohnerzahl der Städte Kaifeng und Hangzhou stieg auf über eine Million, ein nationaler Postdienst wurde eingerichtet, das Schiesspulver und der Buchdruck mit beweglichen Lettern wurden erfunden, und die Regierung rief ein Schul- und Sozialhilfeprogramm ins Leben. Literatur, Kunst und Wissenschaft florierten.</p>
<p>Vor diesem Hintergrund erlangte Cuju erneut grosse Bedeutung als beliebte Freizeitbeschäftigung und als kulturelles Gut, namentlich am kaiserlichen Hof. Kaiser Taizu höchstpersönlich soll ein begnadeter Cuju-Spieler gewesen sein, zumindest wurde er mehrmals beim Cuju gemalt, insbesondere durch Maler Su Hanchen, der von 1120 bis 1160 an der kaiserlichen Kunstakademie beschäftigt war. Auch in der übrigen Gesellschaft wurde Cuju Bestandteil einer vielfältigen Freizeitkultur, die sich in den städtischen Zentren Chinas etablieren konnte.</p>
<p>Während die chinesische Gesellschaft stets komplexer und die Freizeitaktivitäten vielfältiger wurden, bildeten sich insbesondere in den Städten erste Vereine, die sich um Cuju kümmerten. Die als „Yuanshehui“ oder „Qiyunshe“ bezeichneten Vereine organisierten Spiele, unterrichteten Spieler in der Kunst des Cuju und bildeten eine Art Verband für professionelle Spieler. Die Vereine reisten mit ihren Spielern aber auch herum und stellten ihr Können an den Höfen des Adels und bei öffentlichen Feierlichkeiten zur Schau.</p>
<p>Cuju-Vereine betrachteten sich selber als eine Quelle für soziale Eintracht, die junge Männer unterschiedlicher Herkunft zusammenbrachte und eine Art gemeinschaftlichen Lebensstil pflegte, bei dem Kleider, Geld und Essen miteinander geteilt wurden. Ob auch Frauen zu den Vereinen zugelassen waren, ist nicht überliefert. Die Vereine gaben auch Cuju-Anleitungen heraus, die nicht nur die Technik der Sportart erläuterten, sondern Cuju auch als besonders gesund für Körper und Geist anpriesen. Die Auffassung der Vereine, dass Cuju dem Aufbau von Muskeln dient, abnehmen hilft und das Altern verzögert, würde auch in der heutigen Zeit gut in jedes Fussballhandbuch passen.</p>
<p>Während der Song-Dynastie erlangten einige Cuju-Spieler durch ihre Ballfertigkeiten nationale Berühmtheit. Zwei davon sind Meng Xian und Lu Bao, die in ganz China bekannt waren und deren Namen für die Nachwelt überliefert wurden. Unter dem Titel „Shan Yue Zheng Sai“ wurde auch eine nationale Meisterschaft durchgeführt, wobei nur in Ansätzen bekannt ist, wie sie organisiert wurde und wer teilnehmen durfte.</p>
<p>Die zunehmende Beliebtheit von Cuju zeigte sich auch daran, dass die Cuju-Vereine Ausbilder beschäftigten, die das Spiel lehrten, und es professionelle Spieler gab. Wie bei anderen Berufsgattungen aus dem Bereich der Unterhaltung, z. B. Musikern, Schauspielern und Tänzern, bereisten auch Cuju-Spieler das Land, stellten dabei Ihre Fähigkeiten zur Schau und brachten Interessierten das Spiel bei. Cuju war so stark geregelt, dass Spieler den Profistatus nur erlangten, wenn sie eine Prüfung bestanden, in der sie beweisen mussten, dass sie die gesamte Palette an Stössen fehlerlos beherrschten.</p>
<p>Die Ausbildung dazu war intensiv und anspruchsvoll und dauerte mehrere Jahre. Es gab aber noch eine andere Möglichkeit, als Cuju-Spieler seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Die Adelsklasse hielt sich ihre eigenen professionellen Spieler. Im Romanklassiker „Die Räuber vom Liang-Schan-Moor“ stellt Kaiser Huizong, der von 1100 bis 1126 an der Macht war, den Boten Gao Qiu aufgrund seiner grandiosen Cuju-Fertigkeiten an.</p>
<p>Cuju stand für Unterhaltung und Spass. Ein Cuju-Spieler, schreibt ein Autor aus der Song-Periode, „strebt nicht nach Geld und Ruhm, er entzückt durch gemütliches Spazieren“. Eine andere Quelle besagt, Cuju sorge <em>„für einen entspannten Körper und einen beschwingten Geist, der einen das Leiden und die Sorgen der geschäftigen Welt vergessen mache. Es löst erstarrte Energie und Materie – Qi – und verleiht dem rechtschaffenen Herz Sanftheit und Anmut.“</em></p>
<p>In Cuju-Vereinen betrachtete man die Irrungen und Wirrungen des Alltags als Gegenpol zur inneren Ruhe und Zufriedenheit (Xin) eines Cuju-Spielers. Zudem wurde ins Feld geführt, dass Cuju den Körper kräftige, die Verdauung fördere, Übergewicht bekämpfe und im Alter in Schwung halte. Zudem soll es gegen Abmagerung und Schwindsucht geholfen haben.</p>
<p>Cuju wurde also als Allheilmittel gegen allerlei Gebrechen betrachtet, das sich auf Körper, Geist und Seele rundum positiv auswirkt.<em> </em>Auch wurde das Spiel als moralische und ethische Lehre betrachtet. Die meisten Cuju-Vereine traten für die konfuzianischen Werte Gutmütigkeit, Anstand, Höflichkeit, Weisheit und Ehrlichkeit ein.</p>
<p>In einer Cuju-Anleitung wird jedoch auf die Gefahren von „Quasselei, Glücksspiel, Streit und Raufereien, Selbstgefälligkeit, Taktlosigkeit, Verlogenheit, Übellaunigkeit, Streitsucht, Masslosigkeit, Alkohol und Frauengeschichten“ hingewiesen, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass derartige Probleme im Zusammenhang mit Cuju nicht unbekannt waren. Es gibt auch Beispiele, in denen Cuju mit Unterhaltung und Alkohol in Verbindung gebracht wird, und literarischen Quellen zufolge gab es auch viele informelle Cuju-Partien, die wohl eher einer lockeren Kickerei unter Freunden im Park gleichkamen.</p>
<p>Kaiser Hongwu (1328-1398), der erste Herrscher der Ming, betrachtete Cuju als Ablenkung von Arbeit und militärischer Ausbildung und verbot den Sport deshalb komplett. Wer trotzdem beim Cuju erwischt wurde, konnte hart bestraft werden – teilweise wurde den Fehlbaren ein Fuss amputiert.</p>
<p>Da andere Sportarten wie Reiten besser zur militärischen Ausbildung passten, verschwand Cuju fast vollständig. Eine auf Eis gespielte Version wurde zu dieser Zeit zwar gefördert, fand aber kaum Anhänger.</p>
<p>Aufgrund der Schwere der drohenden Strafen überrascht es nicht, dass die Cuju-Tradition auch beim Hanshi-Festival und dem Qingming-Fest ausstarb. Das gleiche Schicksal ereilte die Cuju-Vereine. Und trotzdem: Wie an allen anderen Orten auf der Welt, wo Fussball und andere Sportarten verboten wurden, belegen Aufzeichnungen, dass die Menschen nie aufhörten, Cuju im Versteckten weiter zu spielen.</p>
<p>Aufstände und fremde Invasionen, namentlich durch westliche Mächte, führten zu einer Zersplitterung der chinesischen Gesellschaft. Die gesellschaftliche Stabilität, auf deren Grundlage Cuju in den vorangegangenen Jahrhunderten gedeihen konnte, war komplett verschwunden.</p>
<p>Mit dem wachsenden westlichen Einfluss ab Mitte des 19. Jahrhunderts hielten auch westliche Sportarten in China Einzug, namentlich die Leichtathletik. Cuju war danach nur noch eine kollektive Erinnerung an eine vergangene Tradition.</p>
<p>Dass Cuju in China ein Kulturgut ist, zeigt sich auch in Gedichten und Erzählungen. Ein bekanntes Beispiel ist „Wang Shixiu“, eine von 431 Erzählungen von Pu Songling (1640–1715) aus seinem Werk „Seltsame Geschichten aus einem Gelehrtenzimmer“.</p>
<p>Die Erzählung handelt von Wang und seinem Vater aus Luzhou, die beide talentierte Cuju-Spieler waren. Im Alter von 40 Jahren ertrank Wangs Vater beim Versuch, den Qiantang-Fluss zu überqueren. Acht oder neun Jahre später befand sich Wang auf dem Weg nach Hunan und ging auf dem Dongting-See vor Anker ...</p>
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<p>Moderne Sportarten wie Fussball, Leichtathletik, Basketball und Tischtennis übernahmen im chinesischen Sport im frühen 20. Jahrhundert die Vorherrschaft, nicht zuletzt durch den Einfluss des Christlichen Vereins Junger Menschen (YMCA), der Chinas Bildungssystem damals prägte.</p>
<p>In den späten 1950er-Jahren begannen einige chinesische Historiker mit Nachforschungen zur Geschichte dieser alten Sportart, wobei es bis in die 1980er-Jahre dauern sollte, bis sich chinesische Universitäten gründlich mit der Geschichte von Cuju zu befassen begannen. Mit dem Bestreben Chinas, im Weltfussball eine gewichtigere Rolle zu spielen, wurde die Geschichte von Cuju neu aufgerollt. 2015 wurde das Linzi-Fussballmuseum eröffnet, in dem die Kultur von Cuju publikumswirksam aufbereitet wurde.</p>
<p>Aus heutiger Sicht betrachtet erscheint Cuju wie eine Mischung aus zeitgenössischen Sportarten, etwa Basketball, Fussball und Volleyball. Dass dieses antike Spiel den Vergleich mit heute beliebten Sportarten nicht scheuen muss, ist vielleicht das grösste historische Vermächtnis von Cuju. Gleichzeitig wird ein simpler Vergleich von Cuju mit modernen Sportarten der Rolle des Spiels in der chinesischen Gesellschaft während über zwei Jahrtausenden nicht ganz gerecht.</p>
<p>Es gab niemals nur eine einzige, klar definierte Form von Cuju, die damals gespielt wurde. Je nach Variante ging es entweder um den Sieger einer Partie oder um eine Demonstration technischer Fertigkeiten. Über die technischen Aspekte hinaus war Cuju aber vor allem auch Kulturgut eines Volkes, das Ballsportarten über einen langen Zeitraum mit grosser Leidenschaft praktizierte.</p>
<p>Zwar gibt es keinen Nachweis, dass Cuju die modernen Ballsportarten, deren Regeln im 19. Jahrhundert definiert wurden, massgeblich beeinflusst hat. Die Wandelbarkeit des Spiels ebenso wie seine andauernde Beliebtheit sind jedoch ein Beleg dafür, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis verspüren, mit einem Ball zu spielen. Cuju beweist damit, dass dieses Bedürfnis unter den richtigen Bedingungen in ein ausserordentlich ausgefeiltes Spiel münden kann.</p>
<p>Diese Raffinesse, die sich Cuju über die Zeit zu eigen machte, ist ein beeindruckendes Zeugnis der reichhaltigen Geschichte Chinas. Dank längerer Perioden politischer Stabilität und florierender Wirtschaft erlebte Cuju lange Hochzeiten und konnte sich seinen Platz als beliebtes Volksspiel bei Herrschern und Volk zugleich sichern. So konnte Cuju auch nach instabilen Zeiten und geringerer Beliebtheit wieder aufblühen. Auch heute, 400 Jahre nach seinem definitiven Niedergang, erfüllt Cuju mit seiner kulturellen Bedeutung das chinesische Volk stets von Neuem mit Stolz und wird seit 2015 sogar mit einem eigenen Museum gewürdigt.</p>
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