Ein Spiel für die Geschichtsbücher
<p><strong>Das Spiel zwischen Italien und Brasilien bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien gilt als eines der besten in der WM-Geschichte. Auch für den israelischen Schiedsrichter Abraham Klein ist es bis heute etwas ganz Besonderes. Dabei war lange ungewiss, ob er beim Turnier überhaupt als Unparteiischer eingesetzt werden kann – und das hatte sehr persönliche Gründe. Beim Gespräch im FIFA Museum erinnert sich der 88-jährige frühere Weltklasse-Referee.</strong></p>
<p><em>Von Gastautor Alex Feuerherdt</em></p>
<p>Als Abraham Klein im FIFA Museum zum Interview erscheint, hat er an diesem Tag bereits mehrere Medientermine hinter und weitere noch vor sich. Das Interesse an dem früheren israelischen Spitzenschiedsrichter ist ungebrochen. Am Abend wird im FIFA Museum der italienische Spielfilm „1982 Italia – Brasile“ gezeigt, produziert von Alessandro Della Villa. Er beschäftigt sich mit dem titelgebenden Match beim Turnier in Spanien vor 40 Jahren, das für viele bis heute eines der besten Spiele in der WM-Historie ist, und vor allem mit dem Referee, der es geleitet hat: Abraham Klein. Aus diesem Anlass ist Klein in Zürich, gemeinsam mit seiner Frau Bracha. Im Anschluss an den Film, der an diesem Tag erstmals in der Schweiz zu sehen ist, wird er mit Produzent Della Villa sprechen – und mit Cristiano Burgio, jenem Mann, der ihn im Film gespielt hat.</p>
<p>88 Jahre alt ist Abraham Klein mittlerweile, aber das sieht und merkt man ihm nicht im Geringsten an. Er ist genauso drahtig und schlank wie zu seinen aktiven Zeiten als Unparteiischer, „mein Gewicht und meine Figur habe ich in all den Jahren gehalten, und darauf bin ich stolz“, sagt er im Gespräch. Sein Englisch ist makellos, und wenn er von seiner Karriere und seinen Erlebnissen als Schiedsrichter erzählt, weiss er mit seinen lebendigen Ausführungen nachdrücklich zu fesseln.</p>
<p>Am 5. Juli dieses Jahres war Klein in Rom, auf den Tag genau 40 Jahre nach der legendären Partie zwischen Italien und Brasilien im alten Stadion von Sarrià in Barcelona, die das italienische Team völlig überraschend mit 3:2 gewann. Alle drei Tore für die „Squadra Azzurra“ erzielte seinerzeit Paolo Rossi, der am 9. Dezember 2020 verstarb. In Rom wurde eine Ausstellung zu seinen Ehren eröffnet, im Beisein vieler seiner damaligen Mitspieler.</p>
<p><strong>„Ich konnte an nichts anderes denken als an meinen Sohn“</strong><br>Klein ist zu Beginn der 1980er Jahre einer der besten Schiedsrichter der Welt. Er ist bereits bei den Weltmeisterschaften 1970 und 1978 eingesetzt worden, beim Turnier in Spanien 1982 ist er 48 Jahre alt, es wird deshalb seine letzte WM sein, das steht schon vorher fest. Abraham Klein ist ein Unparteiischer, der für die grossen und besonders wichtigen Spiele in Betracht kommt, auch bei diesem Turnier, „genauso wie vor allem Nicolae Rainea aus Rumänien und Károly Palotai aus Ungarn“, erinnert er sich beim Gespräch im FIFA Museum.</p>
<p>Doch als er mit den anderen Unparteiischen eine Woche vor dem Eröffnungsspiel in Madrid zusammenkommt, um den Instruktionen der Schiedsrichterkommission zu lauschen und letzte Vorbereitungen zu treffen, ereilt ihn plötzlich ein Anruf seiner damaligen Frau. Israel befindet sich 1982 im Krieg mit dem Libanon, der gemeinsame Sohn Amit leistet seinen Wehrdienst in der israelischen Armee. „Sie sagte mir, dass Amit im Libanon Kampfeinsätze hat. Es gab jeden Tag Tote und Verletzte in diesem Krieg, und wir hatten kein Lebenszeichen von ihm. Ich war sehr besorgt“, erzählt Klein.</p>
<p>Er habe in Madrid zwar in den Seminaren gesessen und versucht, sich zu konzentrieren, sei aber in Gedanken im Libanon gewesen. „Ich war nicht in der Lage zuzuhören, denn ich konnte an nichts anderes denken als an Amit. Und ich fragte mich deshalb, ob ich in der Lage sein würde, ein WM-Spiel zu leiten, auf das sich die Teams lange vorbereitet haben. Ich hatte bei meinen Einsätzen oft die amtierenden Weltmeister zu pfeifen: Brasilien, Argentinien, Uruguay, Italien, England, Westdeutschland. Ich habe erwartet, wieder ein Spiel mit Beteiligung eines dieser Teams zu bekommen. Und ich habe mich gefragt, ob ich in der Lage sein würde, mich hundertprozentig zu fokussieren.“</p>
<p><strong>Vorerst nur Einsätze als Linienrichter und Vierter Offizieller</strong><br>Klein trifft schliesslich eine Entscheidung und bittet den Vorsitzenden der Schiedsrichterkommission der FIFA, Artemio Franchi, um ein Gespräch. „Es gibt ein Problem mit meinem Sohn“, sagt er zu ihm. „Ich weiss, dass Sie mir vertrauen. Aber ich kann mich nicht zu hundert Prozent konzentrieren, und ich will weder Sie noch die Teams enttäuschen.“ Hinzu kommt: „Machst du einen entscheidenden Fehler, dann gehst du damit auf unrühmliche Weise in die Geschichte der Weltmeisterschaften ein.“ Als Beispiel nennt Abraham Klein das legendäre Hand-Tor von Diego Maradona bei der WM 1986 im Spiel gegen England. Der Schiedsrichter hatte das Vergehen nicht erkannt.</p>
<p>„Ich kann und will es mir nicht leisten, in meinem letzten Turnier einen schweren Fehler zu machen, mit dem mich die Menschen danach immer in Verbindung bringen werden“, so Klein gegenüber Franchi. Er bittet ihn, vorerst nur als Linienrichter und als Vierter Offizieller eingesetzt zu werden. Franchi ist einverstanden, sagt aber auch: „Länger als bis zur zweiten Finalrunde können wir nicht mit einem Einsatz von dir als Schiedsrichter warten.“ Klein erwidert: „Sobald ich ein Lebenszeichen von meinem Sohn habe, werde ich dich nicht anrufen, sondern an deine Zimmertür klopfen.“</p>
<p><strong>Endlich das ersehnte Lebenszeichen des Sohnes</strong><br>Im Spiel zwischen Italien und Peru assistiert Abraham Klein dem deutschen Referee Walter Eschweiler an der Seitenlinie, danach gibt es endlich das ersehnte Lebenszeichen von Amit in Form eines Briefes, den sein Vater im Hotel entgegennimmt. Was darin steht, gibt Klein, auch jetzt noch sichtlich bewegt, so wieder: „Vater, ich bin am Leben. Wir haben im Libanon einige WM-Spiele gesehen. Wenn es eine Weltmeisterschaft gibt, werden die Kampfhandlungen in einem Krieg manchmal unterbrochen. Wir haben kleine, batteriebetriebene Fernsehgeräte. Ich habe dich noch nicht pfeifen gesehen. Ich verstehe, warum das so ist, aber ich lebe, und du kannst jetzt loslegen. Wir wollen dich pfeifen sehen, am liebsten das Finale.“</p>
<p>Abraham Klein rennt zum Hotelzimmer von Artemio Franchi und klopft an die Tür, wie er es versprochen hat. „Dr. Franchi öffnete und sah die Tränen in meinen Augen“, berichtet Klein. „Ich sagte ihm: Mein Sohn lebt. Heute geht für mich das Turnier als Schiedsrichter los. Er schüttelte meine Hand. Nach dem Ende der ersten Finalrunde setzte die Schiedsrichterkommission die Referees für die zweite Finalrunde an. Und ich sollte ein Spiel in der Gruppe C bekommen, in der mit Brasilien, Italien und Argentinien die drei besten Teams dieser Zeit waren.“</p>
<p>Klein wird für das dritte und letzte Gruppenspiel nominiert, die genaue Paarung steht zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Im ersten Spiel treffen Italien und Argentinien aufeinander, im zweiten tritt Brasilien gegen den Verlierer aus dieser Partie an. Viele rechnen damit, dass Italien dieser Gegner sein wird, denn die „Squadra Azzurra“ ist in keinem ihrer drei Spiele in der ersten Finalrunde über ein Unentschieden hinausgekommen, während Argentinien nach dem verlorenen Auftaktspiel gegen Belgien zweimal gewonnen hat. Damit würde die dritte und letzte Begegnung, die Klein leiten soll, Brasilien – Argentinien lauten.</p>
<p><strong>Das Spiel läuft anders als erwartet</strong><br>Doch es kommt anders als erwartet. Argentinien verliert gegen Italien mit 1:2 und muss sich anschliessend auch Brasilien geschlagen geben, 1:3 heisst es am Ende. Der Weltmeister von 1978 ist damit ausgeschieden, in Abraham Kleins Spiel kämpfen nun also Brasilien und Italien um den Einzug ins Halbfinale, den hoch favorisierten Brasilianern, die nicht wenige für die beste Mannschaft der Welt halten, würde dabei ein Unentschieden genügen.</p>
<p>„Um die Wahrheit zu sagen: Als Italien gegen Argentinien gewann, war ich nicht glücklich“, erinnert sich Klein. „Nicht, weil ich zu Argentinien gehalten hätte – ich habe nie in meinem Leben ein Team favorisiert. Sondern weil jeder Schiedsrichter davon träumt, ein Spiel zwischen Brasilien und Argentinien zu leiten. Es ist einfach ein grosser Kampf. Ich wollte immer potenziell schwierige, fordernde Spiele leiten. Nach einfach zu leitenden Spielen erinnert sich niemand an dich. Es war mein letztes Turnier, und ich sagte zu meinen Linienrichtern: Ich glaube, dieses Spiel wird niemand im Gedächtnis behalten, es wird 5:0 oder 6:0 für Brasilien ausgehen.“</p>
<p>Auch als Paolo Rossi im Stadion von Sarrià vor 44.000 Zuschauern die Italiener nach fünf Minuten mit seinem ersten Tor in Führung bringt, rechnet Klein nicht mit einer Überraschung: „Ich habe in diesem Moment an die WM 1970 gedacht, in der die Tschechoslowakei in der Partie gegen Brasilien auch das erste Tor erzielte und Brasilien am Ende mit 4:1 gewann.“ Tatsächlich gelingt den Südamerikanern durch Socrates wenige Minuten später der Ausgleich. Doch nach 25 Minuten schiesst Rossi sein zweites Tor. Da wird Abraham Klein klar: „Das ist nicht der Spielverlauf, den du erwartet hast. Dieses Spiel wird in die Geschichte der Weltmeisterschaften eingehen, es ist anders und besonders.“</p>
<p><strong>Kleins besonderer Schachzug in den letzten Spielminuten </strong><br>In der 68. Minute sorgt Falcao für den erneuten Ausgleich, sieben Minuten danach trifft Paolo Rossi zum dritten Mal. Anschliessend gibt es einen regerechten Sturmlauf der Seleção, die bei einer Niederlage ausgeschieden wäre, „eine Invasion in den italienischen Strafraum“, wie Klein es nennt. Er beschliesst, in der restlichen Spielzeit von seiner üblichen Positionierung im Strafraum abzuweichen und näher an der Torlinie sowie am italienischen Torhüter Dino Zoff zu sein, um besser erkennen zu können, ob der Ball die Torlinie überschreitet oder es zu einem Foul am Keeper kommt.</p>
<p>Dieser Schachzug zahlt sich aus: „Kurz vor Schluss gab es einen kraftvollen Kopfball von Oscar auf das Tor, Zoff hielt ihn auf der Linie und begrub den Ball unter sich. Mein Linienrichter war zwar ebenfalls auf der Höhe der Torlinie, und natürlich vertraute ich ihm. Aber zwischen ihm und Zoff waren viele Spieler, sodass er keinen freien Blick hatte.“ Abraham Klein handelt nach Erfahrung und Intuition, das hilft ihm in einem entscheidenden Moment dieses Spiels. Als er am 5. Juli dieses Jahres in Rom ist, trifft er Dino Zoff wieder. „Der Ball war wirklich nicht drin“, sagt der frühere Weltklassekeeper. „Natürlich nicht“, sagt Klein.</p>
<p>Italien erreicht schliesslich das WM-Finale und schlägt dort die Bundesrepublik Deutschland mit 3:1. Die Partie in Madrid leitet Arnaldo Cézar Coelho – so ist doch noch ein Brasilianer im Endspiel. „Er war der beste Schiedsrichter des Turniers“, ist Abraham Klein mit der Wahl der FIFA noch heute vollkommen einverstanden. Das damalige Reglement sieht vor, dass es im Falle eines Unentschiedens zu einem Wiederholungsspiel kommt. Der Schiedsrichter wäre dann Abraham Klein, so legt es die FIFA fest. In Madrid fungiert Klein als Linienrichter von Coelho, zur Pause steht es 0:0. In der Kabine scherzt er gegenüber dem Referee: „Bitte tu alles dafür, dass das Spiel unentschieden ausgeht, dann kann ich auch noch ein Finale pfeifen.“ Es kommt anders, doch natürlich tut das dem Verhältnis der beiden zueinander keinen Abbruch, im Gegenteil: „Wir sind noch heute befreundet“, sagt Klein.</p>
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<h4>Klicke hier, um mehr über den Football meets Cinema-Event mit Abraham Klein vor einigen Wochen im FIFA Museum zu lesen.</h4>
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