Vor 50 Jahren: Brasiliens Taça Independência
<p><strong>Vor 50 Jahren schlug Brasilien Portugal im Finale der Taça Independência („Pokal der Unabhängigkeit“), die bis 1982 das grösste internationale Fussballturnier war. Das Endspiel führte nicht nur zum Showdown zwischen dem mehrfachen Weltmeister Brasilien und dessen früheren Kolonialmacht, sondern hatte auch ein Nachspiel, das uns heute noch beschäftigt.</strong></p>
<p>Die 1960er- und frühen 1970er-Jahre waren in Brasilien von enormen Veränderungen geprägt. Mit der Einweihung der neuen Hauptstadt Brasília im Jahr 1960 begann eine Phase des Wirtschaftswachstums, die als „milagre brasileiro“ (brasilianisches Wunder) in die Geschichtsbücher einging. Im Rahmen eines umfassenden Infrastrukturprogramms zur Erschliessung des gesamten Landes wurden Strassen und Brücken gebaut, dank derer sich nun auch bislang isolierte Regionen erreichen liessen. Zeitlich fiel diese Ära teilweise mit der Militärdiktatur zusammen, insbesondere der Herrschaft von Präsident Emílio Garrastazu Médici zwischen 1969 und 1974.</p>
<p>Der Zufall wollte es, dass der brasilianische Fussball in dieser Zeit auf einer Welle des Erfolgs schwamm.</p>
<p>1970 hatte das Nationalteam überlegen die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ gewonnen. Die Regierung witterte die Chance, mithilfe des Fussballs die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den zunehmenden Protesten abzulenken. Bilder und Filme, mit denen die Brücke zwischen den WM-Helden von 1970 und dem brasilianischen Wirtschaftswunder geschlagen wurde, waren allenthalben zu sehen. Sie bildeten die Begleitmusik zur ersten nationalen Meisterschaft im Jahr 1971, mit der der Fussball auch in entlegene Teile Brasiliens gebracht werden sollte. Parallel dazu legte die Regierung ein Programm zum Bau neuer Stadien in verschiedenen Regionen des riesigen Landes auf. Das neue Stadion in Maceió wurde nach Brasiliens grösstem Fussballstar Estádio Rei Pelé getauft.</p>
<p>1972 bot sich dem Regime die einzigartige Gelegenheit, der Welt das „brasilianische Wunder“ durch die Ausrichtung eines eigenen internationalen Fussballturniers vor Augen zu führen. 1972 feierte Brasilien den 150. Jahrestag der Unabhängigkeit von Portugal. Die Regierung knüpfte an die populäre südamerikanische Tradition an, wichtige Jahrestage in grossem Stil zu feiern. So hatte Argentinien zur Feier des 100. Jahrestags seiner Unabhängigkeit im Jahr 1916 die erste Südamerikameisterschaft ausgetragen. 1930 hatte Uruguay noch einen draufgesetzt, als es anlässlich der Hundertjahrfeier seiner Unabhängigkeit die erste FIFA Fussball-Weltmeisterschaft veranstaltete.</p>
<p>Bei der in der brasilianischen Presse als Mini-WM bezeichneten Taça Independência fehlten zwar die drei letzten Weltmeister aus Europa, aber alle zehn südamerikanischen Nationen waren vertreten, sowie sieben Nationalteams aus Europa, der Asienmeister Iran sowie Kontinentalauswahlen aus Afrika und Nordamerika. Mit 44 Spielen, die in zwölf Städten unter Beteiligung von insgesamt 20 Teams ausgetragen wurden, war es das bis dahin grösste internationale Fussballturnier aller Zeiten. Zum Vergleich: Bei der WM 1970 waren lediglich 16 Teams angetreten, die ihre 32 Spiele in nur fünf Städten ausgetragen hatten. Erst die WM 1982 wartete mit mehr Teams bzw. Spielen auf.</p>
<p>Das Format der WM 1970 war noch einfach, was man von der als „Minicopa“ bekannt gewordenen Taça Independência nicht behaupten kann. Da zu Turnierbeginn am 11. Juni noch nicht alle Teams verfügbar waren, erhielten Schottland, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion und Uruguay – zusammen mit Gastgeber Brasilien – jeweils ein Freilos für den Einzug in die zweite Runde. Dort sollten sie gegen die Sieger der drei Erstrundengruppen in zwei Gruppen von je vier Teams antreten. Die Sieger dieser zwei Gruppen würden sich dann für das Finale qualifizieren.</p>
<p>Die Spiele der Erstrundengruppen fanden alle weitab von den traditionellen Fussballzentren statt. Dies war eine symbolische Verbeugung vor den Regionen des Landes, die vom Wirtschaftswunder profitiert hatten. Sechs der acht Stadien – Manaus, Natal, Recife, Maceió, Aracaju und Campo Grande – waren neu erbaut und das Estádio Fonte Nova in Salvador komplett saniert worden. Abraham Klein aus Israel, einer der Schiedsrichter des Turniers, wunderte sich im Gespräch mit Guy Oliver, Historiker des FIFA Museums, über die vergleichsweise niedrigen Zuschauerzahlen. „Die Fans hatten offenbar wenig Erfahrung mit nicht brasilianischem Fussball und waren es nicht gewohnt, anderen Nationalteams zuzusehen. Ich pfiff das Spiel Jugoslawien gegen Bolivien in Campo Grande, das nur 15 000 Zuschauer im Stadion sehen wollten.“ Dem Spiel Nordamerika gegen Afrika in Salvador wohnten nur 1928 Fans bei. Sehr enttäuschend war auch die Zahl von nur 6587 Zuschauern, die sich drei Tage später zum entscheidenden Spiel der Gruppe 1 zwischen Argentinien und Frankreich im selben Stadion einfanden.</p>
<p>Das Spiel endete mit einem torlosen Unentschieden. Damit qualifizierte sich Argentinien für die nächste Runde, weil das Team ein besseres Torverhältnis hatte als die französische Mannschaft und jeweils nur der Erstplatzierte der aus fünf Teams bestehenden Erstrundengruppen weiter kam. Den Franzosen war es nicht gelungen, die stabile Verteidigung des argentinischen Teams zu überwinden, das auf Unentschieden spielte. Die beiden Länder waren bei der WM 1970 in Mexiko genauso wenig vertreten gewesen wie Portugal und Jugoslawien, die Sieger der beiden anderen Gruppen. In der hart umkämpften Gruppe 2 schlug Portugal die Republik Irland im entscheidenden Spiel mit 2:1 und qualifizierte sich so mit der maximalen Punktzahl fürs Weiterkommen. Derweil entschied Jugoslawien dank der neun Tore von Dušan Bajević die Gruppe 3 vor Paraguay für sich.</p>
<p>Während der ersten Runde hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Dies änderte sich, als das Gastgeberteam in das Turnier eingriff und São Paulo, Rio de Janeiro, Belo Horizonte und Porto Alegre als Austragungsorte für die Spiele der beiden Zweitrundengruppen zum Zug kamen. Brasilien trug sein erstes Spiel gegen die Tschechoslowakei vor 115 000 Zuschauern im Maracanã aus. Das brasilianische Team trat in ähnlicher Besetzung auf wie zwei Jahre zuvor in Mexiko – mit einer grossen Ausnahme: Pelé, der ein Jahr zuvor seine internationale Fussballkarriere beendet hatte, war nicht dabei. Ohne ihren Star schien den Brasilianern der Glanz und die Aura der Unbesiegbarkeit abhandengekommen zu sein, die zum Gewinn der Weltmeisterschaft geführt hatten. Gegen die Tschechoslowakei reichte es nur zu einem enttäuschenden torlosen Unentschieden.</p>
<p>Am nächsten Tag schlug Portugal Argentinien in einem nur zu einem Viertel gefüllten Maracanã-Stadion mit 3:1. Wie sich später herausstellte, entschied dieses Spiel den Ausgang der anderen Gruppe. Portugal, das noch immer auf die Helden der WM 1966, Kapitän Eusébio und Trainer José Augusto, zählen konnte, sicherte sich schliesslich das Finalticket – durch einen Sieg gegen die Sowjetunion, bei der lediglich noch Wolodymyr Onyschtschenko in der Mannschaft stand, die nur zwei Wochen vorher im Finale der Europameisterschaft Westdeutschland unterlegen war.</p>
<p>Die Entscheidung in Brasiliens Gruppe fiel im Spiel zwischen dem Weltmeister und dem schottischen Team. Als Schiedsrichter für die Partie wurde Abraham Klein ausgewählt. „Es war das grösste Publikum des ganzen Turniers“, erinnert er sich. „130 000 Menschen versammelten sich im Maracanã. Schottland war damals eine wirklich starke Mannschaft. Ich pfiff zwischen 1970 und 1972 drei Spiele mit brasilianischer Beteiligung. Brasilien gewann alle 1:0. Jairzinho hatte bei der WM 1970 das einzige Tor gegen England erzielt. Und jetzt schoss er das einzige Tor des Spiels gegen Schottland.“ In der 82. Minute verwandelte er eine Flanke von Rivellino per Flugkopfball und sicherte Brasilien damit die Finalteilnahme.</p>
<p>Erstaunlicherweise kamen vier Tage später weniger Fans zum Finale zwischen den beiden grossen Nationen der portugiesischsprachigen Welt ins Maracanã. Der 3:0-Sieg gegen Jugoslawien war Brasiliens beste Leistung im Turnier gewesen. Für zwei der drei Tore war das Team allerdings auf Standardsituationen angewiesen. Und das Spiel gegen Portugal entschied es mit einem Freistoss für sich. Die Portugiesen wurden zu Beginn des Spiels – wohl aufgrund der Erblast aus der Kolonialzeit – mit einem gellenden Pfeifkonzert bedacht. Das Team erarbeitete sich dann aber den Respekt des Publikums, hielt es die Brasilianer doch 89 Minuten lang in Schach. Die letzte Minute brachte dann die Entscheidung.</p>
<p>Kurz vor dem Abpfiff gab Abraham Klein Brasilien einen Freistoss, der am Sechzehner unweit der Torlinie ausgeführt wurde. Rivellino schlug den Ball in den Fünfmeterraum, wo ihn Jairzinho über den herausstürzenden Keeper José Henrique hinweg ins portugiesische Tor köpfte. Es war der dritte 1:0-Sieg für Brasilien mit Abraham Klein als Schiedsrichter und das dritte Tor Jairzinhos in diesen drei Spielen.</p>
<p>Nach Spielende wurden Klein zwei wertvolle Geschenke überreicht: der Spielball, der mittlerweile seinen Platz im FIFA Museum gefunden hat, und eine Pfeife aus massivem Gold. Während der Siegerehrung konnte er zudem aus nächster Nähe den prächtigen Pokal bewundern, der extra für diesen Anlass angefertigt worden war. Die aussergewöhnliche Trophäe wurde dem brasilianischen Spielführer Gérson überreicht. Eigentlich nichts Besonderes. Doch als Klein ins Hotel Glória zurückkehrte und hierbei denselben Weg nahm wie die Tausenden Fans, die zur Feier dieses historischen Sieges über die frühere Kolonialmacht zur Copacabana strömten, wusste er eines noch nicht: Als einem von Wenigen war es ihm vergönnt, diesen prächtigen Pokal aus der Nähe zu betrachten. „Wenige Jahre später verschwand er“, so Klein.</p>
<p>Denn in der Nacht auf den 19. Dezember 1983 brachen Diebe in die Zentrale des brasilianischen Fussballverbandes ein und stahlen den Pokal. Es war nicht die einzige Trophäe, die in der Nacht entwendet wurde. Die Diebe liessen zwei weitere Trophäen mitgehen: einen Pokal, der Brasilien für den zweiten Platz bei der WM 1950 überreicht worden war, und die ursprüngliche Siegestrophäe der Fussball-Weltmeisterschaften, den Jules-Rimet-Pokal.</p>
<p>Über den Diebstahl des Jules-Rimet-Pokals und Vermutungen über seine mögliche Einschmelzung wurde viel geschrieben. Das Schicksal der Taça-Independência-Trophäe wurde im Vergleich dazu kaum thematisiert. Wurde er ebenfalls eingeschmolzen? War es überhaupt möglich, eine derart verzierte Trophäe einzuschmelzen? Und was ist andernfalls mit ihr geschehen? Wurde sie vielleicht von einem Sammler gestohlen? Oder waren die Diebe eigentlich nur auf den Weltpokal aus und nahmen die Taça-Independência-Trophäe lediglich mit, weil sich zufällig die Gelegenheit dazu bot? Wenn ja, was bedeutet das für das Schicksal des Jules-Rimet-Pokals?</p>
<p>Diese Fragen werden womöglich nie beantwortet werden. Oder kommt die Wahrheit eines Tages doch noch ans Licht? </p>
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<p>Maracanã, Rio de Janeiro</p>
<p>Sonntag, 09.07.1972, 18:00 Uhr<br>99,138 Zuschauer</p>
<p><strong>BRASILIEN 1-0 PORTUGAL</strong></p>
<p><strong>Goal:</strong> Jairzinho 89</p>
<p><strong>Schiedsrichter:</strong> Abraham Klein ISR, Keith Walker ENG [&] Guillermo Velásquez COL</p>
<p><strong>Brasilien</strong><br>Leão – Zé Maria, Brito, Vantuir, Marco Antônio (Rodrigues Neto 40) – Clodoaldo, Gérson (c), Rivellino – Jairzinho, Tostão, Leivinha (Dario 60). <em>Trainer: Mario Zagallo<br></em></p>
<p><strong>Portugal</strong><br>José Henrique – Artur Correia, Humberto Coelho, Messias Timula, Adolfo Calisto – Toni, Jaime Graça, Peres – Rui Jordão (Artur Jorge 77), Eusébio (c), Dinis. <em>Trainer: </em><em>José Augusto<br></em></p>
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