Der englische Gentleman und das Armband
<p><strong>England reiste 1970 zur WM nach Mexiko mit einer Mannschaft, die als noch stärker eingeschätzt wurde als diejenige, die vier Jahre zuvor den Titel gewonnen hatte. Doch die Vorbereitung auf das Turnier wurde überraschend gestört, als das Team in Bogotá einen Zwischenhalt für ein Testspiel einlegte.</strong></p>
<p>Angesichts der Verstärkung des Weltmeisterteams von 1966 mit Terry Cooper in der Verteidigung sowie Alan Mullery und Colin Bell im Mittelfeld waren die Hoffnungen in England vor der WM 1970 gross. Um die Mannschaft optimal auf die Hitze und die Höhe in Mexiko vorzubereiten, organisierte der englische Fussballverband zwei Freundschaftsspiele in Kolumbien und Ecuador. Alles war bis ins kleinste Detail geplant. Das Einzige, was Trainer Alf Ramsey nicht vorhersehen konnte, war die Verhaftung des Kapitäns Bobby Moore in Bogotá, der beschuldigt wurde, aus einem Geschäft in dem opulenten Hotel Tequendama, in dem die Mannschaft untergebracht war, ein Armband gestohlen zu haben.</p>
<p>Das FIFA Museum besitzt ein Telegramm vom 30. Mai 1970, in dem Moore Morris Keston und dessen Ehefrau für den Beistand für seine Frau Tina in dieser stressigen Zeit dankte. Die Kestons waren Freunde von Bobby und Tina, obwohl sie leidenschaftliche Fans von Tottenham Hotspur und nicht etwa von Bobbys West Ham United waren.</p>
<p><strong>Drama im Hotel Tequendama</strong><br>Zwölf Tage zuvor am Montag, 18. Mai, um 16.00 Uhr trafen die Engländer im Hotel Tequendama ein und schlenderten durch die Empfangshalle, während sie auf die Zimmerschlüssel warteten. Moore und Teamkollege Bobby Charlton gingen in das Juweliergeschäft Fuego Verde in der Empfangshalle, nachdem Charlton im Schaufenster einen Smaragdring entdeckt hatte, von dem er dachte, er könne seiner Frau gefallen. Wegen des hohen Preises verliessen die beiden den Laden aber wieder, verfolgt von Verkäuferin Clara Padilla, die Moore beschuldigte, ein Armband aus dem Schaufenster gestohlen zu haben. Nachdem die beiden Spieler durchsucht und nichts gefunden worden war, schien die Sache erledigt zu sein.</p>
<p>Und so liefen am 20. Mai im Spiel gegen Kolumbien sowohl Moore als auch Charlton auf, der gar ein Tor zu 4:0-Sieg beisteuerte. Die Anwesenheit des englischen Teams sorgte in Bogotá für viel Begeisterung, da noch nie zuvor ein amtierender Weltmeister in Kolumbien gespielt hatte. Nicht ganz so angetan war Danilo Rojas, der Inhaber des Juweliergeschäfts, der die Polizei davon überzeugen konnte, Moore erneut zu vernehmen, und neben der Bezahlung des Armbands auch noch Schadenersatz forderte. Am Morgen nach dem Spiel wurde Moore nochmals befragt und aufgefordert, seine Hand durch den ominösen Spalt im Schaufenster zu stecken. Da seine Hand aber nicht durchpasste, schien das Ganze endgültig erledigt zu sein, woraufhin die Mannschaft am Nachmittag nach Quito reiste, wo Moore drei Tage später beim 2:0-Sieg gegen Ecuador im Einsatz stand.</p>
<p><strong>Moore wird verhaftet</strong><br>Mangels Direktflug von Quito nach Mexiko musste England über auf dem Weg zum WM-Turnier erneut in Bogotá landen. Am 25. Mai wurde Moore dann dort zur Überraschung aller verhaftet. Ein Zeuge namens Álvaro Suárez hatte sich gemeldet und behauptet, dass er durch die Ladentür gesehen habe, wie Moore das Armband gestohlen habe. Trainer Alf Ramsey stellte sich voll hinter seinen Kapitän und liess keinen Zweifel daran, was er von diesen Vorwürfen hielt: „Mit der Integrität dieses Mannes ist alles gesagt. Diese Anschuldigungen sind schlicht lächerlich.“ Dem Team blieb nichts anderes übrig, als ohne Moore über Panama nach Mexiko zu reisen.</p>
<p>Währenddessen sollte Moore in ein Gefängnis in einer der ruchlosesten Gegenden der kolumbianischen Hauptstadt gebracht werden, ehe Alfonso Senior, der Präsident des kolumbianischen Fussballverbands und eine der prägendsten Figuren in der Geschichte des FC Millonarios, den zuständigen Richter bat, Moore in seinem Anwesen unter Hausarrest zu stellen. Auch die kolumbianische Presse stellte sich auf Moores Seite, allen voran die Zeitung „El Tiempo“, die in Moore einen „englischen Gentleman“ sah und schrieb: „Wir sollten Moore und nicht Zeugen glauben, die sich widersprechen und nicht ernst genommen werden können.“</p>
<p><strong>Widersprüchliche Beweise</strong><br>Die Zeitung spielte damit auf die widersprüchlichen Aussagen von Padilla und Suárez an. Bezeichnend dafür war eine Nachstellung des angeblichen Diebstahls, als Padilla behauptete, Moore habe das Armband in die Tasche seines Trainingsanzugs gesteckt. Zu dumm, dass Moores Trainingsanzug gar keine Taschen hatte. Angesichts des zunehmenden Drucks knickte Suárez schliesslich ein und gestand, vom Ladenbesitzer für die Falschaussage bezahlt worden zu sein. Das Ganze erwies sich endgültig als Lügengebilde, als João Saldanha, der Brasilien als Cheftrainer durch die Qualifikation für die WM 1970 geführt hatte, erklärte, dass bei einigen brasilianischen Spielern in Bogotá eine ähnliche Masche versucht worden sei und die Vorwürfe gegen Moore eine Schande seien.</p>
<p>Als sich ernsthafte diplomatische Spannungen anbahnten, wurde Moore mangels Beweisen entlassen. Am 28. Mai auf seinem Flug nach Mexiko-Stadt spielte er die ganze Geschichte in Interviews herunter. Auch schien sie ihn und den Rest des Team nicht nachhaltig beeinflusst zu haben. Bei der Endrunde in Mexiko zeigte er seine gewohnte spielerische Klasse und war beim Trikottausch mit Pelé nach Englands Niederlage im Gruppenspiel gegen Brasilien in Guadalajara gar zu Spässen aufgelegt. Gross zum Vorfall äussern mochte sich Moore aber nicht, sondern liess lieber seinen typisch britischen Humor sprechen, als seine Frau Tina später zu ihm nach Mexiko nachreiste und ein Geschenk mitbrachte – ein Armband!</p>
<p><strong>„Der eleganteste Mann, den ich je gesehen habe“</strong><br>Kein anderer Kapitän eines Weltmeisterteams hatte bis dahin je so im Blickpunkt gestanden wie Moore in diesen zehn Tagen in Südamerika. Die letzten Worte überlassen wir jedoch Hernando Rojas, der an jenem schicksalhaften Tag als Schuhputzer im Foyer des Hotels arbeitete und viele Jahre später von dem in Bogotá lebenden Fussballjournalisten Carl Worswick für den Guardian interviewt wurde. "Ein Gigant", sagte Rojas zu Worswick. "Der eleganteste Mann, den ich je gesehen habe. Bobby Moore, ein wahrer Champion".</p>
<p>Vielleicht ist das die beste Art und Weise, sich an einen von bisher nur 21 Männern zu erinnern, die ihr Land als Kapitän zum Weltmeistertitel geführt haben.</p>
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