Origins: Die mesoamerikanischen Ballspiele
<p>Die Geschichte der Ballspiele in Mesoamerika – ein Kulturgebiet, welches das heutige Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica umfasst – reicht Jahrtausende zurück. Diese Ballspiele nahmen im politischen, gesellschaftlichen und rituellen Leben der Gemeinschaften und der in der Region prosperierenden Reiche eine zentrale Rolle ein. Der Anthropologe Paul Kirchhoff, der den Begriff „Mesoamerika“ prägte, nahm sie gar in die Liste der typischen Merkmale der mesoamerikanischen Kulturtradition auf.</p>
<p>Obschon sich nicht mit letzter Sicherheit sagen lässt, wie in mesoamerikanischen Ballspielen gezählt wurde, gibt es verschiedene Anhaltspunkte, zum Beispiel aus dem Ulama, einer modernen und heute vor allem für Touristen inszenierten Version der Sportart. Dort erhält eine Mannschaft einen Punkt, wenn sie den Ball über die Endlinie befördert, ein Gegenspieler den Ball zweimal oder mit dem falschen Körperteil berührt oder das gegnerische Team den Ball nicht über die Mittellinie passt.</p>
<p>Aus anderen Quellen geht hervor, dass eine Mannschaft neun Punkte erreichen musste, was sich aber nicht ganz einfach gestaltete. Bei bestimmten Spielständen wurde nämlich ein Urra ausgetragen, bei dem Punkte vergeben und gleichzeitig abgezogen wurden, was den Spielverlauf komplett auf den Kopf stellen konnte. Wenn beispielsweise Team A zum Zeitpunkt des Urras 3:1 führte, den nächsten Punkt aber verlor, fiel es wieder auf null, während Team B einen Punkt dazugewann. Ein 3:1 konnte sich so im Nu in ein 0:2 verwandeln. Aufgrund dieser Regel konnten sich Spiele über mehrere Tage erstrecken.</p>
<p>Zwischen 1988 und 1994 machten Archäologen des mexikanischen Nationalinstituts für Anthropologie und Geschichte an der archäologischen Stätte El Manatí im mexikanischen Bundesstaat Veracruz eine Reihe spektakulärer Funde. Dieser in einer Moorlandschaft gelegene Ort war eine Zeremonien-, Opfer- und Grabstätte der Olmeken. Aufgrund des sumpfigen Untergrunds blieben vergängliche Materialien erhalten. Den Göttern wurden kostbare Gaben dargebracht, darunter wahre Meisterwerke des mesoamerikanischen Kunsthandwerks. Neben Äxten aus geschliffener Jade und geschnitzten Holzbüsten fanden die Archäologen auch zwölf massive Gummibälle.</p>
<p>Mittels Radiokarbonmethode wurde das Alter dieser Bälle auf 1600 v. Chr. datiert, womit es sich dabei um den weltweit ältesten Nachweis für die Herstellung und Verwendung von Gummi handelt. Aufgrund der unterschiedlichen Grösse der Bälle ist anzunehmen, dass es sich um Opfergaben handelte und nicht um Bälle für eine besondere Form der mesoamerikanischen Ballspiele. Eingehende archäologische, ethnografische und chemische Untersuchungen lieferten zudem spannende Erkenntnisse über die Zusammensetzung dieser Bälle und das technische Wissen, das für die Herstellung dieser faszinierenden Gegenstände nötig war.</p>
<p>Die Bälle aus El Manatí wurden aus dem Milchsaft des in Südmexiko heimischen Panama-Kautschukbaums (<em>Castilla elastica</em>) hergestellt. Um die Elastizität des Balls zu erhöhen, damit er von der Hüfte abprallt und höher aufspringt, wurde dem Kautschuk der Saft der Mondblume (<em>Ipomoea alba</em>) beigemischt. Die mesoamerikanischen Handwerker kannten diese Materialen sehr genau und passten das Verhältnis von Kautschukmilch zu Mondblumensaft auf ihre jeweiligen Bedürfnisse an. Für möglichst langlebige Sandalensohlen lautete ihr Verhältnis 3:1, für die Kautschukbälle, die möglichst elastisch sein sollten, hingegen 1:1.</p>
<p>Im Laufe der mesoamerikanischen Geschichte fanden die Ballspiele in diversen Kunstformen Ausdruck: in Keramikplastiken, als Gravuren auf Stelen oder Steinen oder auf bemalten Vasen. Eine Reihe von Kunstgegenständen, die dem Hüftballspiel gewidmet waren, sticht jedoch heraus und gibt Aufschluss über die bei den Ballspielen verwendeten Kleidungsstücke, Insignien und Rituale.</p>
<p>In Veracruz an der Südküste des Golfs von Mexiko wurden zahlreiche, als Joch-Palmen-Axt-Komplex bekannte Ritualobjekte entdeckt. Ihre Blütezeit erlebte die Ballspielkunst in Veracruz insbesondere in der Klassik (250–900 n. Chr.). Bei den Objekten handelte es sich um Insignien, welche die Ballspieler bei Zeremonien und Ritualen vor und nach den Spielen trugen. Die Motive im Kunststil der klassischen Veracruz-Kultur sind von unvergleichlicher Schönheit.</p>
<p>Die u-förmigen Jochsteine oder Yugos (vom spanischen Wort für „Joch“) verdanken ihren Namen ihrer Ähnlichkeit zum Geschirr, mit dem Zugtiere eingespannt werden. Da es im präkolumbianischen Mesoamerika noch keine Zugtiere gab, handelt es sich dabei wohl eher um eine steinerne Version des Hüftschutzes aus Holz oder Leder, den die Ballspieler während der Spiele trugen. Die Yugos, die in Mesoamerika eine lange Geschichte haben, weisen ganz unterschiedliche Motive auf.</p>
<p>Auf zahlreichen Exemplaren sind Tiere aus der Unterwelt wie Frösche, Kröten oder Katzen zu sehen. Viele Yugos wurden in Grabstätten gefunden, wobei einige absichtlich zertrümmert worden waren, was möglicherweise auf die enge Bindung zwischen dem Leben des Objekts und jenem von dessen Besitzer hinweist. Diese Verbindung zwischen den Ballspielinsignien und der Totenwelt ist wenig verwunderlich, bestand doch gemäss den Erzählungen im Popol Vuh ein ausdrücklicher Zusammenhang zwischen den Ballspielen und der Unterwelt.</p>
<p>Hachas (vom spanischen Wort für „Axt“) sind schmale Steinskulpturen, die meist kunstvoll gemeisselte Menschen- oder Tierköpfe darstellten und wohl an die Yugos angehängt wurden. Auf vielen Hachas mit menschlichen Köpfen sind die Augen geschlossen. Gelehrte glauben, dass sie die abgeschlagenen Köpfe der Menschen darstellen, die bei den in ganz Mesoamerika verbreiteten Ritualen am Rande der Ballspiele geopfert wurden. Auch Tiere, insbesondere Vögel und Affen, sind häufig auf Hachas zu finden.</p>
<p>Palmas sind grössere Steinskulpturen, deren Form an Palmenwedel erinnern. Wie die Hachas wurden möglicherweise auch die Palmas als Teil der zeremoniellen Insignien an den Yugos befestigt. Auf den Palmas, die etwas jünger zu sein scheinen, sind neben Opfergaben und Enthauptungen auch viele andere Motive zu sehen, darunter Tiere, Pflanzen oder abstrakte Symbole.</p>
<p>Die ballspielenden Heldenzwillinge sind für das Verständnis der einzigartigen Kultur, die Mesoamerika über mehr als drei Jahrtausende prägte, von zentraler Bedeutung. Sie erklären auch, weshalb Ballspiele in Mesoamerika eine solch wichtige Rolle spielten.</p>
<p>Die Geschichte handelt von zwei Brüderpaaren: den Heldenzwillingen Hunahpu [Wah nuh pooh] und Xbalanque [Ish bay lan kay] sowie ihrem Vater, dem glorreichen Ballspieler Hun Hunahpu [Whan Wah nuh pooh], und ihrem Onkel Vucub Hunahpu [Voh Cob Wah nuh pooh].</p>
<p>Höre dir die Geschichte an, indem du auf die untenstehende Schaltfläche klickst…</p>
<p>Die wohl wichtigste schriftliche Quelle in einer Maya-Sprache ist das Popol Vuh, eine Sammlung von Erzählungen, die der Dominikanermönch Francisco Ximénez zu Beginn des 18. Jahrhunderts (ca. 1701) zusammentrug. Ximénez war zwischen 1689 und 1721 Pfarrer in mehreren Städten im Hochland von Guatemala und lernte in dieser Zeit diverse Maya-Sprachen, darunter K’iche’ und Kaqchikel.</p>
<p>In der Stadt Chichicastenango fiel Ximénez ein altes Manuskript in die Hände, das die Geschichte der K’iche’ über die Erschaffung des Universums und seiner ersten Bewohner sowie die sagenumwobene Geschichte der K’iche’-Herrscher bis 1524 und der Ankunft der ersten Europäer erzählte.</p>
<p>Ximénez schrieb das Manuskript ab und übersetzte es ins Spanische. Während der originale K’iche’-Text verloren ging und nie mehr auftauchte, befindet sich Ximénez’ Transkript, das einzige heute noch existierende Exemplar, in der Newberry Library in Chicago.</p>
<p>In den Popol-Vuh-Erzählungen zur Erschaffung des Universums nehmen Ballspiele eine zentrale Rolle ein. Je nach Interpretation standen sie in Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsritualen, der Unterwelt, der bildlichen Darstellung des Sonnenlaufs am Himmel, dem Tod und der Wiedergeburt des Maisgottes oder galten als Bindeglied zwischen der Welt der Menschen und der Unterwelt.</p>
<p>Zwei Themen prägen die rituelle Bedeutung der Ballspiele: einerseits Dualität – von Leben und Tod, Nässe und Trockenheit sowie Dunkelheit und Helligkeit – und andererseits Fruchtbarkeit. Beide stehen in Zusammenhang mit dem Lauf der Sonne und dem Lebenszyklus des Maises, des Grundnahrungsmittels der Menschen in Mesoamerika.</p>
<p>In den 3000 Jahren, in denen die Ballspiele in Mesoamerika gespielt wurden, veränderte sich deren rituelle Bedeutung immer wieder. Nicht verändert hat sich jedoch die zentrale Rolle, welche diese Spiele im religiösen Leben einnahmen.</p>
<p>Klar ist auch, dass die Geschichte der Heldenzwillinge bei den Maya eine lange Tradition hatte, wie die von Archäologen auf 200 v. Chr. datierten Skulpturen und Relieftafeln mit Episoden aus dieser Geschichte belegen.</p>
<p>Die Olmeken waren ein an der Südküste des Golfs von Mexiko lebendes Volk, das oft als „Mutterkultur“ Mesoamerikas gilt und bis 1500 v. Chr. zurückdatiert wird. Neben grossen Errungenschaften der mesoamerikanischen Kultur wie der Schrift und dem Kalender wird ihnen auch der Ursprung der mesoamerikanischen Ballspiele zugeschrieben, wobei Letzteres aufgrund der Forschungsergebnisse der letzten 25 Jahre zunehmend in Frage gestellt wird.</p>
<p>Zwei wichtige Indizien geben Aufschluss darüber, ob es Ballspiele in frühen mesoamerikanischen Gesellschaften tatsächlich gab: Kunst und Ikonografie mit Ballspielmotiven sowie bauliche Überreste von Ballspielplätzen an Ausgrabungsstätten.</p>
<p>Während der Spätformationszeit nimmt die Zahl der Ballspielplätze in ganz Mesoamerika stark zu. Die Anlagen wurden im Herzen der Städte errichtet und mit der politischen und religiösen Elite der jeweiligen Gemeinschaft assoziiert. Entsprechend wurden sie nicht nur für Ballspiele genutzt, sondern auch für religiöse Rituale, die auch politische Funktionen hatten.</p>
<p>Prächtige Modelle von Ballspielplätzen aus dem Bundesstaat Nayarit im Nordwesten Mexikos belegen, dass sich solche Spiele in der Spätformationszeit bereits über ganz Mesoamerika und sogar bis zur Grenze im Nordwesten verbreitet hatten. <br><br>Diese Modelle gehören zu den eindrucksvollsten Darstellungen von Ballspielen des präkolumbianischen Mesoamerikas. Sie zeigen nicht nur die Spieler bei Aktionen, wie sie auch im modernen Ulama vorkommen, sondern auch Zuschauer, die sich um den Platz drängen, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.<br><br>Wer diese Zuschauer genau waren – Adlige, Bürgerliche, Priester, ausländische Würdenträger, andere Spieler oder Angehörige der Spieler –, ist nicht bekannt.</p>
<p>Teotihuacán war der Mittelpunkt des wohl grössten Reichs in der Geschichte Mesoamerikas. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt im zentralen Hochland Mexikos zwischen 100 v. Chr. und 550 n. Chr.</p>
<p>Auf ihrem Zenit hatte sie rund 100 000 Einwohner und war die grösste Stadt in der westlichen Hemisphäre. Ihr Einfluss reichte vom vulkanischen Hochland Zentralmexikos bis zur Pazifikküste und den tropischen Dschungelgebieten der Maya rund 1100 Kilometer südöstlich.<br><br>Überraschenderweise hatten die Ballspiele in diesem mächtigen mesoamerikanischen Reich offenbar keinerlei Bedeutung mehr. Im städtischen Zentrum des Reichs wurden keine Ballspielplätze gefunden, aber auch im grossen, von Teotihuacán kontrollierten Gebiet wurde der Bau solcher Plätze deutlich eingeschränkt oder sogar ganz eingestellt. Noch heute tappen Archäologen im Dunkeln, weshalb die Bevölkerung von Teotihuacán keine solche Ballspiele spielte.</p>
<p>Gemäss gewissen Gelehrten löste ein Ballspiel, das mit einem Holzschläger gespielt wurde, das traditionelle Hüftballspiel als beliebteste Sportart in Teotihuacán ab. Auf den Fresken, die im Palast Tepantitla im Herzen von Teotihuacán entdeckt wurden, sind diverse Ballspiele zu sehen, wobei der Ball bei einem mit einem Schläger und bei einem anderen mit den Füssen gespielt wird.</p>
<p>Die Fresken zeigen auch verschiedene Hüftballspiele, was beweist, dass diese den Einwohnern der Stadt bekannt waren, obschon ihre Bedeutung geringer war als an anderen Orten oder zu anderen Zeiten. Fest steht, dass es in Mesoamerika zahlreiche Ballspiele gab.</p>
<p>Die Maya-Stätte Cantona ist berühmt für ihre 24 Ballspielplätze, während es an der berühmten UNESCO-Weltkulturerbestätte Chichén Itzá 13 gab. Insgesamt wurden in Mesoamerika 1500 Ballspielplätze entdeckt, wovon die grosse Mehrheit aus der Maya-Zeit der Späten Klassik stammten.<br><br>Über die Ballspiele der Maya ist dank den ziemlich zahlreichen Nachweisen einiges bekannt. Dazu gehören wunderschön bemalte Keramiktöpfe, die als Beigaben in königliche Gräber gelegt wurden, kunstvoll gemeisselte Relieftafeln, die Ballspieler in Aktion zeigen, oder lebensechte Figuren von athletischen Ballspielern in voller Montur. Dank der Entzifferung der Hieroglyphen der Maya konnten zudem die einzigen Texte übersetzt werden, in denen die Spiele von den Spielern selbst beschrieben wurden.</p>
<p>Liverpool-Trainer Bill Shankly sagte einst: „Fussball ist keine Frage von Leben und Tod. Er ist viel wichtiger.“ Für die Ballspieler in Mesoamerika ging es möglicherweise tatsächlich um Leben und Tod. Fremdenführer bei Maya-Ausgrabungsstätten schmücken ihre Geschichten über die mesoamerikanischen Ballspiele gerne mit blutigen Details zu Opferritualen, die im Anschluss an die Spiele stattfanden. Wurden die Verlierer geopfert, um sie zu bestrafen? Wurden die Gewinner geopfert, damit sie näher bei den Göttern waren? Oder wurden die Ballspieler vielleicht gar nicht geopfert? Keine dieser Fragen lässt sich mit Sicherheit beantworten.</p>
<h3>PRÄKOLUMBIANISCHE ÜBERLIEFERUNGEN</h3>
<p>Ein möglicher Zusammenhang zwischen Ballspielen und Opferungen geht auf präkolumbianische Überlieferungen zurück. Auf Darstellungen aus El Tajín in Veracruz sind Ballspieler zu sehen, denen das Herz entnommen wird. Ebenfalls aus Veracruz stammen vier Stelen, die beim Ballspielplatz in Aparicio entdeckt wurden und auf denen enthauptete Männer in Spielkleidung – mit einem Yugo und einer fächerartigen Palma – abgebildet sind. Aus ihren Hälsen spritzt Blut in Form von sieben Schlangen, was wohl Fruchtbarkeit symbolisiert. In der berühmten Maya-Stadt Chichén Itzá, deren Ruinen auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden, zeigen Relieftafeln eine Gruppe von aufwendig gekleideten Spielern, wobei einer von ihnen den abgeschlagenen Kopf eines anderen Spielers in den Händen hält.</p>
<h3>SPANISCHE CHRONISTEN</h3>
<p>Interessanterweise erwähnten spanische Chronisten aus dem 16. Jahrhundert, die solche Ballspiele selbst miterlebt haben könnten, keinerlei Menschenopfer im Zusammenhang mit den Spielen. Vielleicht hingen diese Hinrichtungen weniger mit den Ballspielen selbst als vielmehr mit einer bestimmten Stelle des Ballspielplatzes zusammen. Historische Aufführungen von Schöpfungsgeschichten waren ein wesentlicher Bestandteil von mesoamerikanischen Zeremonien. So diente der Platz möglicherweise als Bühne, auf der die Entstehung der Beziehung zwischen der Welt der Menschen und der Unterwelt aufgeführt wurde.</p>
<h3>POPOL VUH</h3>
<p>Enthauptungen spielen auch im Popol Vuh eine zentrale Rolle. Die Heldenzwillinge werden gezeugt, als der abgeschlagene und an einem Baum aufgehängte Kopf von Hun Hunahpu in die Hand von Xquic, der Mutter der Zwillinge, spuckt. Diese Episode zeigt eindeutig die Regenerations- und Fruchtbarkeitskräfte von abgeschlagenen Köpfen. Später in der Geschichte wird auch einer der Heldenzwillinge geköpft, woraufhin die Herrscher von Xibalba ein Ballspiel mit seinem Kopf spielen. So überrascht es nicht, dass Darstellungen von Enthauptungen bei Ballspielplätzen und auf ballspielbezogenen Kunstwerken auftauchen. Es ist anzunehmen, dass es sich bei den Geopferten nicht um Ballspieler handelte, sondern um Kriegsgefangene, die an einer heiligen Stelle des Ballspielplatzes rituell geopfert wurden.</p>
<p>Nachdem sich die Ballspiele über 3000 Jahre immer wieder verändert hatten, hatten sie zur Zeit der Azteken nicht mehr nur eine rituelle Bedeutung, sondern waren tief im Alltag der mesoamerikanischen Gesellschaften verankert.</p>
<p>Die Spiele waren ein beliebter Zeitvertrieb der Adligen, aber auch des einfachen Volkes und fanden auch ausserhalb religiöser Anlässe statt, beispielsweise auf Märkten. Trotz ihrer grossen kosmologischen und religiösen Bedeutung waren sie auch ein gesellschaftliches Ereignis. Sie fanden in informellem wie formellem Rahmen statt, wobei die Zuschauer vor allem zu Spielen kamen, in denen es um Preise, Ansehen und sogar den Segen der Götter ging.</p>
<p>Im heiligen Bezirk im Herzen der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán gab es zwei Ballspielplätze. Der kleinere mit dem Namen Tezcatlachco (Ballspielplatz des Spiegels) war Omacatl, dem Gott der Freude und des Festes, gewidmet. Der grössere und bedeutendere Platz – Teotlachco (Heiliger Ballspielplatz) genannt – grenzte an den Tempel des Windgottes Ehecatl-Quetzalcoatl, der sich in der Nähe des wichtigsten Tempels des Aztekenreiches befand, des Huey Teocalli (Grosses Gotteshaus), der heute als Templo Mayor bekannt ist.</p>
<p>Der Heilige Ballspielplatz wurde vom spanischen Mönch und Franziskanerchronist Bernardino de Sahagún beschrieben und gezeichnet. Auf seiner monumentalen „Historia general de las Cosas de Nueva España“ (Allgemeine Geschichte der Dinge Neuspaniens) aus dem Jahr 1577 beruht ein Grossteil des heutigen Wissens über die Kultur der Azteken. Obschon sein Werk eine rudimentäre Karte des heiligen Bezirks enthielt, konnte die genaue Lage des Heiligen Ballspielplatzes erst 2014 ermittelt werden. Gemäss weiteren Nachforschungen wurde das Bauwerk zwischen 1481 und 1519 in drei Phasen errichtet. Die Ost-West-Ausrichtung des Platzes entspricht dem Sonnenlauf am Himmel. Die klaren Bezüge zwischen dem Platz und dem Tempel des Windgottes sowie der Standort im Mittelpunkt des Allerheiligsten der Azteken verdeutlichen die immense, heilige Bedeutung der Ballspiele.</p>
<p>Rund um den Heiligen Ballspielplatz wurden weitere wichtige Entdeckungen gemacht, die spektakulärste davon im Jahr 1967: Neben steinernen Miniaturnachbildungen von Musikinstrumenten wurden zwei steinerne Modelle von Ballspielplätzen sowie je ein schwarzer und ein weisser Steinball gefunden. Sowohl die Ost-West-Ausrichtung des Heiligen Ballspielplatzes als auch die Schwarz-Weiss-Symbolik der Bälle zeigen, dass bei Ballspielen zwei Kräfte aufeinandertrafen: Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, Sonne und Mond. Diese Themen sind auch im Popol Vuh der Maya zentral, was beweist, dass es sich um eine panmesoamerikanische Vorstellung handelte, die sich über Tausende von Kilometern und Hunderte von Jahren erstreckte.</p>
<p>Motecuhzoma Xocoyotzin, besser bekannt als Montezuma, war der wohl berühmteste Aztekenherrscher. Er regierte von 1502 bis 1520 über Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt.</p>
<p>Über die nahe gelegene Stadt Texcoco herrschte sein Verbündeter Nezahualpilli, der Montezuma zu einem Ballspiel herausforderte und dabei sein ganzes Königreich aufs Spiel setzte, während Montezumas Wetteinsatz gerade einmal drei Truthähne waren. Nezahualpilli gewann und durfte sein Königreich behalten. Doch Montezuma sah in der Niederlage ein böses Omen und ein Zeichen, dass ihm die Götter nicht wohl gestimmt waren. Er wurde 1520 im Zuge der Eroberung Tenochtitláns durch Hernán Cortés und seine spanischen Konquistadoren getötet.</p>
<p>Die mächtige Aztekenstadt Tenochtitlán fiel 1521 in die Hände von Cortés und wurde zerstört. Auf ihren Ruinen wurde eine neue Hauptstadt errichtet: Mexiko-Stadt. Im Zuge der religiösen Bekehrung der indigenen Bevölkerung wurden all deren Rituale verboten.</p>
<p>Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern der damaligen Zeit hatten Ballspiele in Spanien keine Tradition. Doch selbst wenn die Spanier begnadete Ballspieler gewesen wären, wären das Hüftballspiel und die damit verbundenen indigenen Rituale dem Untergang geweiht gewesen. Juan Bautista de Pomar, ein Chronist gemischter indigener und spanischer Abstammung, schrieb in seiner „Relación de Texcoco“: „Gegenwärtig wird das Spiel nicht mehr gespielt. Die Mönche haben es verboten, da es Hexerei und ein Pakt mit dem Teufel sei.“</p>
<p>An der Riviera Maya, einer Urlaubsregion in Yucatán, werden diese Spiele in einem Nachbau des berühmten Ballspielplatzes von Copán, einer bedeutenden Maya-Stadt während der Klassik, gespielt. Damit schliesst sich ein Kreis: Der Zuschauersport Mesoamerikas erfindet sich neu als Schauspiel für ausländische Besucher, die sich ob eines jahrhundertealten Spiels erfreuen, das von den Nachkommen der historischen Spieler ausgetragen wird.</p>
<p>Jede moderne Ballsportart hat ihre ganz eigene Geschichte von ihrer Entstehung bis zur Kodifizierung. Ein Zusammenhang zwischen einem Spiel, das mit der Hüfte gespielt wurde, und der Entstehung des Fussballs scheint deshalb auf den ersten Blick eher unwahrscheinlich. Anzunehmen, dass gar kein Zusammenhang besteht, wäre jedoch falsch. Die lange übergangenen mesoamerikanischen Ballspiele sind ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen Erbes aller modernen Ballsportarten, und einige Parallelen zum heutigen Fussball sind erstaunlich.</p>
<p>Die Besuche eines Ballspiels in Mesoamerika sind den Erlebnissen moderner Fussballfans gar nicht so unähnlich. Vor einem Spiel trafen sich die Zuschauer, um gemeinsam etwas zu essen, zu trinken oder sogar um Wetten abzuschliessen. Bei der Spielstätte, die einen Mittelpunkt der Stadt darstellte, drängten sich die Zuschauer um den Ballspielplatz. Die Spieler, die versuchten, den Ball durch einen Ring zu spielen – also ein Tor zu erzielen –, wurden von den Zuschauern angefeuert und bejubelt. Genau wie heute unterstützten die Zuschauer ihre Teams mit grosser Leidenschaft. Ebenso stark war der Wunsch, Gönner einer Mannschaft zu werden. Nach dem Spiel strömten die Zuschauer durch die umliegenden Strassen und besprachen die Spielgeschehnisse, das Resultat und die Fertigkeiten der Spieler.</p>
<p>Die Faszination, Ballspielen beizuwohnen, überdauerte die Jahrhunderte und überwand sämtliche geografische Grenzen. Viele der heutigen Erkenntnisse über die mesoamerikanischen Ballspiele stammen aus archäologischen Funden rund um Ballspielplätze. Stellen Sie sich also Folgendes vor: Sie reisen 1000 Jahre in die Zukunft und besuchen die Ruinen der grossartigen Stadien der heutigen Zeit. Wäre das Erlebnis so viel anders als ein Besuch der mesoamerikanischen Ballspielplätze von damals? Und was würden wohl unsere Vorfahren über den heutigen Fussball denken?</p>
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